Kishōtenketsu – eine japanische Erzählstruktur

Als medienaffiner Gamer und vor allem Rollenspieler beschäftigt man sich eventuell irgendwann mit der Art und Weise wie Geschichten erzählt werden.

Die 3-Akt und 5-Akt-Struktur kennt man noch aus dem Deutschunterricht. Die Japaner haben dann aber auch noch etwas anderes. Aus China eingeführt entwickelten die Japaner eine Vorliebe für eine besondere Erzählstruktur – Kishōtenketsu.

Man könnte es sich nun einfach machen und sagen: das ist eine 4-Akt-Struktur – so einfach ist es dann aber doch nicht.

Wir im Westen sind dabei irgendwie auf 3 oder 5 Akte eingestellt und mancherorts wird sogar gelehrt, dass man Absätze in drei Teile aufteilen soll (Titelsatz, Unterstützungssatz und Fazit-Satz oder so – ist schon lange her, dass ich so etwas gelesen habe). So verrückt sind wir nach 3 Teilen.

Die bekannteste Form ist wohl für die meisten die 3-Akt-Struktur, Einleitung, Konflikt, Ergebnis oder auch einfach nur Anfang, Mittelteil und Ende.

Kommen wir aber zu Kishōtenketsu

Kishōtenketsu durchdringt asiatische Medien und besonders Manga und Anime wie bei uns der 3- oder 5-Akter. Das Wort Kishōtenketsu setzt sich dabei aus vier Teilen beziehungsweise Wörtern zusammen:

  • Ki: Einleitung

  • Shō: Entwicklung

  • Ten: Twist bzw. Komplikation

  • Ketsu: Fazit bzw. Versöhnung

Eine Besonderheit ist, dass es weniger den Spannungsbogen, sondern viel mehr das Interesse des Leser oder Zuschauer abbildet.

Aber schauen wir uns doch die 4 Teile von Kishōtenketsu einmal genauer an.

Die Einleitung beschreibt die Grundlagen der Geschichte, die handelnden Charaktere etc. und ist somit nicht sehr anders als der Start von uns bekannten Geschichten. In Shō, der Entwicklung wird dieser Bereich weiterentwickelt, die Geschichte entwickelt sich und das Interesse des Konsumenten wird verstärkt. Das Ziel ist ein Gefühl von „das klingt interessant, ich mag die Charaktere und möchte wissen was weiter passiert“ beim Konsumenten zu erzeugen.

Der Clou liegt dann jedoch im „Ten“ Bereich. Kishōtenketsu muss keinen herkömmlichen Konflikt beinhalten. Ein Umstand, der bei einigen Leuten dazu führt, dass sie sich beim lesen von Mangas oder sehen von Animes und japanischen Filmen irgendwie das Gefühl haben, dass etwas fehlt. Es ist nicht so, dass es keine Action oder Kämpfe gibt – es fehlt bloß manchmal der Konflikt.

In der Literatur kennt man Konflikte als der Kampf zwischen Protagonist und Antagonist, die beide oftmals Gegensätze repräsentieren oder den inneren Konflikt und die Zerrissenheit eines Protagonisten zwischen Pflichten und Sehnsüchten wie in den klassischen Dramen. Kishōtenketsu kommt manchmal, genaugenommen häufig ohne diese klassische Definition eines Konflikts aus.

Was passiert nun aber im „Ten“ Bereich? Es erfolgt ein Twist oder eine Komplikation tritt auf. Das kann ein Konflikt sein, es kann aber auch nur bedeuten, dass der handelnde Charakter kein Kleingeld für den Süßigkeitenautomaten hat und darauf eigentlich in den beiden Abschnitten vorher hingearbeitet wird. Alternativ kann auch jemand in genau diesem Moment den letzten Schokoriegel der Lieblingsmarke gekauft haben.

Kurz gesagt, es passiert etwas unvorhergesehenes. Etwas, das den Konsumenten zu einer emotionalen Reaktion bewegt. Dies ist oftmals auch mit einem Wow-Effekt verbunden.

Bei der Versöhnung erfährt man dann warum was genau beim Twist passiert ist und die Geschichte wird zu einem Abschluss gebracht. Um beim Beispiel mit dem Automaten und dem Schokoriegel zu bleiben könnte die andere Person sehen, dass der Charakter traurig ist und sich entschließen den Riegel mit ihm zu teilen. Man sieht dann beide auf einer Parkbank sitzen und sich am Ende unterhalten.

Ein historisches Beispiel

Ein klassisches Beispiel für Kishōtenketsu ist ein altes Volkslied von Rai San’yo* was in der Regel wie folgt übersetzt wird:

In Honmachi in Ōsaka leben die Töchter eines Garnhändlers, (Ki)

die Ältere ist 16, die Jüngere 15. (Shō)

Die Fürsten der Länder töten mit Pfeil und Bogen. (Ten)

Die Töchter des Garnhändlers töten mit den Augen. (Ketsu)

In der Einleitung erfahren wir etwas über die Situation und die Personen, aber noch nichts von einem Krieg oder Soldaten.

Durch die Entwicklung in zweiten Satz erfahren wir mehr über die Töchter und die Geschichte scheint sehr offen.

Nun kommt im Ten-Bereich der Twist. Es ist Krieg und die Soldaten töten anscheinend wahllos Leute aus dem Volk.

In der Auflösung, Versöhnung von etablierter Geschichte und dem Twist erfahren wir, dass die Töchter sich den Soldaten anscheinend entgegenstellen und diese mit ihren Blicken töten können – wobei das wohl eher eine Metapher dafür ist, dass sie den Soldaten den Kopf verdrehen und sie dann eventuell nicht mehr so weit kommen.

Alles durchdringende Erzählstruktur

Ähnlich wie der bei uns verbreitete 3-Akt-Wahn legen viele Mangaka, also Mangazeichner auch nach Kishōtenketsu ihre Panels auf den Manga-Seiten fest. Kleine Comics, wie bei uns Hägar oder Garfield sind in Japan auch oftmals viergeteilt.

Dabei ist die Struktur wie im Gedicht in der Regel gleich und das Ergebnis sind zu einem großen Teil Geschichten die ohne einen Konflikt in dem uns bekannten Sinn auskommen.

Das Spiel mit der Erwartung

Während bei uns das Augenmerk auf dem Konflikt und seiner Lösung liegt wird bei Kishōtenketsu der Zuschauer oder Leser die ganze Zeit geteased. Was wird passieren und wenn es passiert, wie löst sich das ganze auf.

Von der ersten Minute muss etwas den Konsumenten fesseln – ein das wird später besser gibt es meist nicht. Als Konsument von japanischen Filmen, Anime und Manga sowie Gamer mit einem leichten Faible für Spiele aus Japan fällt das einem irgendwann auf.

In der Regel gibt es eine begrenzte Zahl von Charakteren. Die Charaktere und die Szenen werden in den ersten Folgen gezeigt. Daraufhin wird erst einmal die Hintergrundgeschichte immer weiter aufgebaut und dann kommt etwas Unvorhergesehenes:

  • ein Charakter ist ein Klon

  • oder eine Superwaffe

  • Feinde sind eigentlich Geschwister

  • plötzlich gibt es eine große Verschwörung

  • unzählige Manga- und Anime-Plots bitte hier einfügen

In der Versöhnung erfahren wir dann meist wie die Charaktere auf die veränderte Situation reagieren.

Im Großen fällt einem das auch auf und man merkt schnell: „Moment, das ist irgendwie immer gleich gestrickt“. Was einem aber nicht auffällt – oftmals ist auch jede einzelne Szene und Folge in dieser Art gestrickt. Die Folge ist ein stetiges Ansteigen der Erwartung beim Konsumenten – ein „was passiert als nächstes“.

Ist das jetzt gut? Besser oder wie?

Ich mag nicht immer alles in den Himmel loben. Kishōtenketsu kann für uns mit unserem Verständnis von Drama manchmal etwas schwer zu verdauen sein. Manchmal hilft es zu verstehen, dass die Japaner nun mal in dieser Art ihre Geschichten erzählen so wie wir dazu tendieren von Anfang an einen Konflikt in den Mittelpunkt zu rücken und ihn über 3 – 5 Akte zu seinem Höhepunkt zu bringen.

Ich mag die japanische Erzählweise und ich komme auch mal ohne einen Konflikt im herkömmlichen Sinn aus. Das ganz führt nämlich oft auch zu sehr warmen und herzerwärmenden Geschichten, bei denen es mehr um Menschlichkeit und Probleme des Alltags geht. Außerdem überraschen die Geschichten mich recht häufig aufgrund ihrer doch anderen Struktur.

Für Interessierte – Nintendo entwickelt Super Mario Spiele mitlerweile auch nach diesem System. Ein Video, dass die Entwicklung erklärt ist auf dem Kanal von Mark Brown in englischer Sprache zu finden.

 

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